Veloferien in Asien
Neugierig bleiben Vietnamesen in Ho-Chi-Minh-Stadt vor dem Fünfsternehaus Grand Hotel Saigon stehen: Bleiche Europäer montieren Pedalen an ihre Mountainbikes (für die Anreise im Flugzeug waren sie entfernt worden), sie justieren Lenker und Sättel. Morgen beginnt die Veloreise durchs Mekongdelta in Vietnam und weiter bis nach Angkor in Kambodscha. Das amüsierte Staunen der Passanten ist verständlich: Mit dem Wirtschaftsaufschwung der letzten zwanzig Jahre sind Velos nahezu vollständig verschwunden. Cyclos, dreirädrige Fahrradrikschas, wurden schon Ende der neunziger Jahre aus dem Stadtzentrum verbannt – sie seien Ausdruck der Rückständigkeit, lautete die Begründung. Jetzt knattern mehrere Millionen Motorräder durch die Neunmillionenstadt, wenn sie denn nicht im Stau stehen, und täglich kommen fast tausend neue hinzu.
Die Fitness reicht bei allen
Es ist nicht sehr lange her, im 19. Jahrhundert, als ein Gesandter Vietnams nach seiner Rückkehr berichtete, dass Menschen auf Zweirädern durch Paris pedalen. «Niemand glaubte ihm, man schmiss ihn ins Gefängnis», weiss Tho, unser Deutsch sprechender Guide. Erst nachdem ein zweiter Gesandter ein Velo nach Vietnam brachte, wurde sein Vorgänger rehabilitiert.
Und heute sind wir dran, mit Mountainbikes, eine Kleingruppe mit einer Altersspanne von Ende zwanzig bis Mitte siebzig. Die geplante Strecke ist meistens flach, die Fitness reicht bei allen, wie sich zeigen wird. Bei akuter Ermattung könnte man in den «Besenwagen» umsteigen, der das Gepäck transportiert. Zudem fährt ein Kleinlastwagen mit Ersatzteilen mit, oder die Wagen warten an vereinbarten Stellen. Jetzt bringen sie uns aus der Moped-Metropole zum Startpunkt.
Auf ruhigen Nebenstrassen und kleinen Wegen rollen wir unter Bambushainen den Reisfeldern des Mekongdeltas entlang und durch Dörfer, die sich an Flussarme oder Lotusteiche schmiegen. Hier kommen keine Touristen vorbei. Einheimische fragen freundlich nach dem Woher und Wohin. Plötzlich dringen Musik, Stimmen und Gelächter durchs dichte Grün: eine Hochzeit. Wir halten an und werden ins Festzelt vor dem Haus gebeten – trotz verschwitzter Velokleidung, in der man sich neben den eleganten Vietnamesen etwas unwohl fühlt. Sofort wird ein zusätzlicher Esstisch gedeckt: leckere Frühlingsrollen, Suppe, selbstgemachter Aufschnitt, Honig und Schnaps. Die Gastfreundschaft überwältigt. Was geschähe, wenn eine Touristengruppe Japaner, Chinesen oder Araber irgendwo in der Schweiz bei einer Hochzeit neugierig in den festlichen Garten guckte?
Nicht nur hier bewährt sich Tho als Übersetzer. Und Reiseleiter Karl Günthard von Bike Adventure Tours rekognoszierte und plante als Vietnam-Kenner die Tagesetappen stets so, dass Zeit für Begegnungen vorhanden ist – dank dem Fahrrad fallen sie leicht, wir rollen mitten in den Alltag am Mekong. Doch dann fahren wir dem Drachen über den Schwanz: «Song Cuu Long», «Neun Drachen», heisst der aufgefächerte Fluss. Es sind zwar bloss acht Wasserarme, die Neun gilt jedoch als Glückszahl. Mit Fähren – wie wir es hier tun –, über kleinere oder neue, imposante Brücken vor den Städten überqueren wir einen der wasserreichsten Flüsse der Welt, den Mekong, den «Drachen». Und der atmet: Mit der Ebbe und Flut des nahen Meeres sinkt und steigt der Süsswasserpegel im Delta. Mit Stauen und Fluten verwandeln die geschickten Vietnamesen die Region in die Reiskammer und den Früchtekorb des Landes – seit Jahrhunderten.
Schlangen und Fernsehserien
Lunch gibt es in Garküchen entlang der Strecke: meist vietnamesische Pho, würzige Suppe mit Nudeln und Gemüse und mit Fleisch für den, der es mag. Dazu eisgekühlter Tee oder Bier der Marke Saigon. Nie schmeckt es besser als nach ein paar Stunden Radeln in der Hitze. Auch frisch gepresster Zuckerrohrsaft, der alle paar Kilometer erhältlich ist, belebt. Anderswo verkauft eine Frau Schlangen. Zur Geschäftsanbahnung holt sie die fetteste aus der Kiste, hält sie mit links am Ende fest, derweil sie mit rechts den Fernseher bedient – mit dem Rücken zur Schlange und den zögerlichen Kunden verfolgt sie eine Serie. Und es riecht etwas streng: Ihr Nachbar produziert fermentierte stinkende Fischsauce, die jedoch gering dosiert Gemüse und Reis schmackhaft veredelt.
Tagesetappen enden immer in guten Hotels. Danach ein Stadtbummel, wie in Vinh Long, wo Familien Dutzende Drachen im warmen Wind über dem Mekong steigen lassen, andere skaten auf dem spiegelglatten Zentralplatz – friedliche Szenen. Die Kriege gegen Frankreich, die USA und Kambodscha, die das kommunistische Vietnam gewonnen hat, sind nicht vergessen, aber weit weg. Manchmal begegnen wir prächtig geschmückten Wagen mit Sarg, begleitet von einer mit Pauken und Trompeten fröhlich aufspielenden Männer-Band in Weiss, als wären sie von der Marine. In vielen Ländern Asiens ist Weiss die angemessene Farbe für solche Anlässe.
In Can Tho lassen wir die Velos stehen, um mit einem Boot mitten in einen Pulk unzähliger Boote aller Grössenklassen zu fahren. Die farbige Armada ist der Morgenmarkt: Engros- und Detailhandel von allem, was das Mekongdelta hergibt. Schwimmende Garküchen ziehen eine würzige Aromafahne hinter sich her. Auf der längsten Etappe, 76 Kilometer bis zur Grenzstadt Ha Tien zu Kambodscha, bei schweisstreibenden 39 Grad, rasten wir am liebsten in Bistros, die Hängematten bereithalten, dazu wird gesüsster Kaffee mit Eis serviert – bitter und süss in perfekter Balance.
Nach der Grenze, nun mit kambodschanischem Begleitteam, fährt es sich auf geteerten Strassen anders, leichter: Der Strassenbelag ist feiner als in Vietnam, dem es zwar in vielerlei Hinsicht besser geht als Kambodscha. Dr. Beat Richner, der hier mehrere Spitäler betreibt, geht die landesweit geschätzte Arbeit, die er für die Ärmsten leistet, so bald nicht aus. Wir rollen durch die Regionen von Kep und Kampot, wo feiner Pfeffer wächst, und baden an weissen Sandstränden im Meer.
Wahrsager oder Schmetterlinge
Eine Marktfrau hat es vorausgesagt: «Du wirst eine Menge Landschaft sehen!» Stimmt. Jackfruit-Bäume, Reisfelder, Palmen. Ein schönes Land, das auch 25 buddhistische Mönche und neun Nonnen am Entdecken sind: Sie sind ebenfalls an den Strand von Sihanoukville gefahren, nicht zur Partymeile, sondern zum ruhigen Abschnitt. Aus Hängematten unter einem Dach schauen sie aufs Meer. Mönch Anderk sagt, die Betrachtung verschiedener Blautöne fördere einen ruhigen Geist. Baden will er nicht. Doch als die Hitze am grössten ist, planscht er gemeinsam mit den anderen im warmen Wasser.
Phnom Penh ist nicht fahrradfreundlich, zu viele Autos, Staus. Bloss fünf Kilometer ausserhalb, auf der Insel Dach im Mekong, radelt es sich wunderbar durch Dörfer, zu Klöstern und Webereien – im Hintergrund die Silhouette der Hauptstadt. Sehenswert sind dort die Pagoden des königlichen Palasts, schöne Beispiele asiatischer Architektur. Harten Kontrast bieten die Behausungen der Ärmsten und die Villen der Elite. Abends, in den Restaurantstrassen am Flussufer, wo ab Sonnenuntergang Wahrsagerinnen Dienst tun, umflattern uns viele Schmetterlinge der Nacht und flüstern uns ihre Angebote ins Ohr.
An Touristenbussen vorbei geht es weiter. Im Gebiet des Weltkulturerbes Angkor bei Siem Reap zeigen sich erneut die Vorzüge des Fahrrad-Reisens: Touristenbusse stauen sich am Südportal von Angkor Tom. Wir fahren vorbei, biegen auf den Naturpfad ab, der über die alte Stadtmauer führt: Hier ist niemand. Unten rudern Fischer über den Wassergraben, manchmal stehen Ruinen mit unergründlichen Gesichtsreliefen im Wald. Eine phantastische Erfahrung. Auf verschlungenen Wegen erreichen wir die Hauptattraktionen: Bayon, Ta Phrom, Angkor Wat. Abtauchen ins babylonische Stimmengewirr Tausender Touristen aus aller Welt – Chinesisch dominiert. Die Anmut der Apsara- Tänzerinnen im fast 1000 Jahre alten Basrelief mögen die vielen Betrachter nicht verändern, aber sie werden heute anders «genutzt»: Was einst Tropenhelm tragenden Kulturreisenden der Spazierstock war, ist heutigen Touristen der permanente Einsatz des Selfie-Sticks. Dann ein letzter Kontrapunkt: Im Zentrum von Angkor Wat steht ein meditierender Mönch: bewegungslos, Augen geschlossen, ein Pol der Ruhe. Umspült von Besucherströmen, praktiziert er Anapanasati, übersetzt: Geistesgegenwart beim Atmen. «Das hilft auch beim Fahrradfahren», hat Mönch Anderk am Strand bei Sihanoukville lächelnd empfohlen.
Video-Impression: Radreise durch Kambodscha auf YouTube
Reisebericht-Autor: Daniel B. Peterlunger, Journalist. Eine Reisereportage aus der NZZ am Sonntag vom 17. April 2016
Infos zum Reisebericht
Reisejahr: 2016